Warum lesen wir tragische Geschichten?
Im Gorilla Verlag haben wir uns der unbequemen Literatur verschrieben – „Feel Bad“ Literatur nennt der Filmtheoretiker Mark Wachholz dieses Gegenmodell zur erheiternden Fiktion. Wir erinnern uns offensichtlich gut und gern an belastende Geschichten, nehmen tragische Elemente als unterhaltsame wie einschlägige Erlebnisse innerhalb unserer Vorstellungswelt wahr – aber warum eigentlich?
Othello‘s Desdemona wie auch dem armen Pferd Artax in Michael Endes Die Unendliche Geschichte haben wir ja irgendwie auch gern beim Untergehen zugesehen. Es war schön, diese treuen Figuren leiden zu sehen; ein Eindruck, der bei vielen bis heute einschlägig bleibt. Als Autor einer solchen Narration gilt es nach Aristoteles’ Poetik, genau dies zu erreichen und die Erzählung so zu gestalten, dass „jemand, der nur hört […], wie die Geschehnisse sich vollziehen, bei den Vorfällen Schaudern und Jammer empfindet“. Und wie? Eine von vielen möglichen Herangehensweisen wird nun kurz erläutert.
Dem Leser schön die Suppe versalzen
Die wichtigsten Begriffe im Zusammenhang mit dieser oberflächlich betrachtet makaber wirkenden Form der Unterhaltung (- war es denn wirklich schön, wie Artax ertrank? -) prägte Aristoteles. Schaudern und Jammer (eleos und phobos) innerhalb des sicheren Rahmens der eigenen Vorstellung und des Erdachten zu durchleben, bietet seiner Idee von Katharsis zufolge „Reinigung für die Seele“ – baut also psychische Spannung ab, um es etwas zeitgemäßer auszudrücken. Das Durchleben von Angst und Mitleid auf dieser fiktionalen Ebene macht es dem Rezipienten einfacher, entsprechende Emotionen auch in der Realität zu verarbeiten. Eine ganz ähnliche Funktion wird übrigens auch Träumen, besonders Alpträumen, zugeschrieben.
Anscheinend reicht es aber nicht, einfach ein furchtbares (mögliches) Vorkommnis zu beschreiben, einer rechtschaffenden Figur also etwas Grauenhaftes widerfahren zu lassen – im Horror-Filmgenre hat sich diesbezüglich ein gewisser Trend abseits des Tragischen generiert, man darf sich aber gern auch mehr zutrauen und abgesehen von einer Abscheu hervorrufenden Inszenierung etwas mehr Handlung bieten.
Tragik ohne Kitsch
Als “beste” Form der Tragödie gelten Geschichten, in denen eine Figur einem eigentlich Nahestenenden Leid antut, oft motiviert durch ein Missverständnis oder eine Täuschung. Die Figur erlangt erst Einsicht, nachdem sie die Tat ausgeführt hat. So hat die Tat nichts Abscheuliches an sich, ruft aber dennoch Erschütterung hervor.
Einige Spielarten dieser grundsätzlichen Idee kennen wir:
- Shakespeares Tragödien kommen dem klassischen Muster der Antike besonders nahe: So tötet zum Beispiel Shakespeares Othello, überzeugt von Desdemonas Untreue, zuerst sie und später, als er seinen Irrtum und ihre Unschuld erkennt, sich selbst.
- Gleich zu Beginn in Gaspar Noés Irréversible wird einem Unbeteiligten der Kopf eingeschlagen, wobei der Irrtum sich nicht aufklärt, was dem Rezipienten wegen des fehlenden Erkenntnis-Moments zusätzlich bitter aufstößt.
- Artax ertrinkt in den Sümpfen der Traurigkeit, nachdem der tollkühne Atreyu unüberlegt handelt (Atreyu bedenkt nicht, dass Artax dem Druck nicht standhalten könnte). Atreyus Erkenntnis kommt zu spät, wird aber über den relativ lang erzählten Sterbensprozess des Freundes hinweg fokussiert. Die Inszenierung unterstreicht in diesem Fall die Tragik von Atreyus fatalem Fehler.
- Schiller, Friedrich. Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (1792).
- Aristoteles’ Poetik (komplette Online-Ausgabe)
- Blog-Auflistung von „Feel Bad Movies“
- Mehr zur klassischen Tragödie
Dem Leser kann und soll also richtig schön die Suppe versalzen werden – sofern dabei auf strukturaler Ebene zwischen Horror und Tragik unterschieden wird. Gerade in modernen Narrationen werden dabei die Grenzen dessen ausgetestet, was ein Rezipient ertragen und erfassen kann, was die entsetzten Reaktionen auf Noés Werk in Cannes anschaulich zeigen.
Hilfreiche Literatur und Links zum Thema:
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